Interview: Zukunftscampus Gesundheits- und Sozialwirtschaft

Ute Heinze, WFG – 10.05.2023

In Kamen soll ein „Zukunftscampus Gesundheits- und Sozialwirtschaft“ auf dem Gelände der Arbeiterwohlfahrt Unterbezirk Ruhr-Lippe-Ems (AWO) entstehen. Neben einem Bildungs- und Qualifizierungszentrum ist die Schaffung eines Innovationslabors samt Coworking Space, der Ausbau der bereits bestehenden Pflegeschule sowie ein Forum als Inklusionsbetrieb im Rahmen des Projektes geplant. Der Campus soll mit Mitteln aus dem 5-StandorteProgramm finanziert werden. Im Gespräch erklärt Rainer Goepfert, Geschäftsführer der AWO Ruhr-Lippe-Ems, was es mit den Plänen für den Zukunftscampus auf sich hat und wie er und sein Team von den WFG-Experten aus dem Projektbüro zum 5-StandorteProgramm unterstützt werden.

Warum wird im Kreis Unna ein „Zukunftscampus Gesundheits- und Sozialwirtschaft“ benötigt?
Rainer Goepfert: „Der Fachkräftemangel in den Bereichen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft ist allgegenwärtig. Der bestehende Mangel an Kitaplätzen, Plätzen in der offenen Ganztagsschule und in der Pflege wird sich in Zukunft weiter verschärfen, wenn es uns nicht gelingt, mehr Menschen für diese Berufe zu gewinnen und diese Arbeitsfelder weiter auszubauen. Entscheidende Wachstumsfaktoren sind der weiter ansteigende Bedarf in der U3-Betreuung, der im Jahr 2026 umzusetzende Rechtsanspruch auf einen Ganztagsbetreuungsplatz und eine weiter alternde Gesellschaft mit zunehmendem Pflegebedarf.
Laut des Bundesinstituts für Berufsbildung und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wird die Gesundheits- und Sozialwirtschaft bis 2040 unter allen Branchen mit Abstand am meisten wachsen und die meisten Beschäftigten stellen. Sie ist die Wachstumsbranche der Zukunft mit einem enormen Arbeitskräftebedarf. Sie muss deshalb in einer konzentrierten Aktion deutlich stärker in den Fokus der Bemühungen um Nachwuchskräfte gerückt werden.
Zur Behebung der Personalengpässe in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft brauchen wir ganz klar mehr Unterstützung und Investitionen von Politik und Verwaltung. Es geht um die Sicherung notwendiger gesellschaftlicher Aufgaben der Daseinsvorsorge, um die Sicherung grundlegender Strukturen frühkindlicher Bildung und der pflegerischen Grundversorgung im Alter. Um mehr Menschen für die sozialen Berufe zu gewinnen und zielgerichtet auszubilden, brauchen wir aber auch neue Wege des Zusammenwirkens der regionalen Akteure. Der geplante Zukunftscampus soll deshalb als Gemeinschaftsprojekt von sozialen Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Wissenschaft, Politik und Verwaltung im Kreis Unna umgesetzt werden.
Die Idee des Zukunftscampus ist gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände im Kreis Unna – AWO, Caritas, Diakonie, Paritätische – entwickelt worden. Der Zukunftscampus wird im Kreis Unna und auch darüber hinaus als innovatives Projekt u. a. von der Wirtschaft, Verbänden, Wissenschaft und Bildungseinrichtungen unterstützt."


Ziel des „Zukunftscampus Gesundheits- und Sozialwirtschaft soll es ja unter anderem sein, zusätzliche Arbeitskräfte für die Gesundheits- und Sozialwirtschaft zu gewinnen. Wie soll das konkret funktionieren?
Rainer Goepfert: „In einem kooperativen Dialog und einem gemeinsamen Schulterschluss mit den beteiligten Akteuren der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung der Gesundheits- und Sozialwirtschaft sollen im Kreis Unna innovative Wege der Gewinnung und Bindung von Fachkräften gestaltet und trägerspezifisch umgesetzt werden. Ganz wichtig ist dabei auch, dass sich Kitas, offene Ganztagsschulen und Pflegedienste zunehmend als betriebliche Lernorte verstehen und die Auszubildenden und zu qualifizierenden Menschen entsprechend begleiten.
Zusätzliche Arbeitskräfte für die Gesundheits- und Sozialwirtschaft sollen vor allem durch attraktive und neue Wege in der Aus-, Fort- und Weiterbildung gewonnen werden. Dazu zählen der Abbau von Eintrittsbarrieren, flankierende Angebote wie Mentoring-Programme und Berufserkundungen für Quereinsteigende, ein durchgängiger enger Praxisbezug, die Verzahnung der verschiedenen Lernorte, Coachings, fachspezifische Sprachkurse, digitales Lernen etc. Es müssen Wege und Angebote geschaffen werden, jeder interessierten Person einen Karrierezugang in die Gesundheits- und Sozialwirtschaft zu ermöglichen. Dabei dürfen bisherige berufliche Erfahrungen und Kenntnisse kein Hindernis sein. Vielmehr müssen die individuellen Bedürfnisse und Lebenslagen der Teilnehmenden berücksichtigt werden."


An welche Zielgruppen sollen sich die Angebote des Qualifizierungszentrums, des Innovationslabors und des Coworking-Space richten?
Rainer Goepfert: „Grundsätzlich richten sich die Angebote des Zukunftscampus an all jene Menschen, die sich für die Gesundheits- und Sozialwirtschaft interessieren oder bereits als Akteur dort tätig sind.
Das Bildungs- und Qualifizierungszentrum konzentriert sich mit seinen flankierenden Angeboten in erster Linie auf bisher ungenutzte Fachkräftepotenziale. Diese sehen wir vor allem in den Zielgruppen Schüler*innen in der Berufsorientierungsphase, Quereinsteigende, Berufsrückkehrer*innen, Alleinerziehende, Studienabbrecher*innen, Schulabbrecher*innen und Migrant*innen. In Kooperation mit regionalen Bildungsanbietern und sozialen Einrichtungen sollen auch Fort- und Weiterbildungsangebote für bereits vorhandene Fachkräfte der Branche angeboten werden.
Für das Innovationslabor und den Coworking-Space sollen Forschungseinrichtungen, Projektbüros, Start-Up-Unternehmen und weitere Unternehmen z. B. aus der IT-Branche gewonnen werden. Ähnlich wie in einem Technologiezentrum sollen Innovationen für die und mit der Sozialbranche praxisnah entwickelt und vorangebracht werden. Z. B. könnte sich dort ein IT-Unternehmen einmieten, um gemeinsam mit Sozialverbänden, Kommunen und Bildungseinrichtungen eine Software zur Unterstützung der Sprachstandsfeststellung von Kindern vor dem Eintritt in die Grundschule praxisnah zu entwickeln und in verschiedenen Kitas zu erproben.   
Darüber hinaus sind auch dezentrale Außenstellen von Behörden, wie der Agentur für Arbeit, dem JobCenter oder Diensten der Gesundheits- und Sozialwirtschaft im Coworking Space denkbar."


Wie ist der Zeitplan für die Umsetzung der Machbarkeitsstudie und wann ist frühestens mit der Eröffnung des Campus zu rechnen?
Rainer Goepfert: „Wenn das weitere Antragsverfahren positiv und optimal verläuft, wollen wir im Januar 2024 mit der Machbarkeitsstudie starten. Dabei geht es im ersten Schritt um eine Bestandsaufnahme und Analyse der Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation der Gesundheits- und Sozialwirtschaft im Kreis Unna. Hierauf aufbauend soll gemeinsam mit den wesentlichen Akteuren eine regionale Strategie zur Fachkräftegewinnung entwickelt werden. In dieser 12-monatigen Entwicklungsphasen werden wir durch unsere Konsortialpartner*innen, dem Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), dem Institut Arbeit und Technik (IAT), der Initiative Internet und Bildung e.V. und der Hochschule Hamm-Lippstadt. unterstützt. Der weitere Zeitplan für die Planung und Umsetzung des Zukunftscampus ist im Wesentlichen abhängig von den Ergebnissen der Machbarkeitsstudie. Bei den bisherigen Vorplanungen insbesondere auch für bauliche Maßnahmen gehen wir zurzeit davon aus, dass der Zukunftscampus bis Ende 2028 fertiggestellt ist."


Wie hoch ist das Investitionsvolumen für die Machbarkeitsstudie und den späteren Zukunftscampus?
Rainer Goepfert: „Die Kosten der Machbarkeitsstudie liegen bei rund 420.000 Euro. Die Kosten der späteren Umsetzung sind maßgeblich von den Ergebnissen der Studie abhängig und können an dieser Stelle noch nicht valide benannt werden."

Welche Effekte wird der Zukunftscampus voraussichtlich für Wirtschaft und Beschäftigung im Kreis Unna haben?
Rainer Goepfert: „Der wesentliche direkte Effekt des Zukunftscampus sind zusätzlich gewonnene und ausgebildete Fachkräfte vor allem in den Bereichen Frühkindliche Bildung, Offene Ganztagsschule und Pflege. Gestützt auf Modellrechnungen vieler wissenschaftlicher Studien und Untersuchungen gehen wir in unserer Prognoserechnung davon aus, dass durch den Zukunftscampus im Kreis Unna innerhalb von 10 Jahren 2.027 Vollzeitstellen besetzt und 766,14 Mio. EUR an Wertschöpfung generiert werden können.
Vom Zukunftscampus profitiert nicht nur die Gesundheits- und Sozialwirtschaft, sondern auch die Wirtschaft insgesamt. Gerade die Einrichtungen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft bilden das Rückgrat für Familienfreundlichkeit und für die verlässliche Betreuung und Versorgung von Angehörigen. So wurde in vielen Studien gezeigt, dass eine gesicherte Kinderbetreuung und Ganztagsangebote eine Grundvoraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit für das Heben von Erwerbspotenzialen und Wertschöpfung aller anderen Branchen sind.  Eine verbesserte Kinderbetreuungsquote, der Ausbau von Ganztagsschulen und eine sichere und verlässliche Versorgung von Pflegebedürftigen sind somit unverzichtbare Standortfaktoren, die für die Unternehmen in der Region gerade in Zeiten schwieriger Fachkräfteverfügbarkeit immer relevanter werden."



Inwieweit werden Sie durch das 5-Standorte-Projektbüro der WFG unterstützt?
Rainer Goepfert: „Das 5-Standorte-Projektbüro der WFG des Kreises Unna hat uns in besonderer Weise bei der Qualifizierung unseres Antrags begleitet. In regelmäßigen Austauschgesprächen konnten wir gemeinsam unseren Antrag schärfen und diesen, wie sich nun herausgestellt hat, erfolgreich qualifizieren. Einen nicht unwesentlichen Anteil an diesem Erfolg können wir dabei auch den Projektmanagern, in erster Linie Dr. Alexander Nolte, zuschreiben. Mit viel persönlichem Engagement, aber vor allem mit großer fachlicher Kompetenz hat Alexander Nolte unser Vorhaben außerordentlich wirkungsvoll unterstützt. Zu jeder Zeit hatten wir das Gefühl, dass das 5-Standorte-Projektbüro hinter unserer Idee steht und sich für den Zukunftscampus regional und überregional stark macht. Wir können die Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsförderung uneingeschränkt empfehlen und danken für die gute Unterstützung."


Haben Sie noch Tipps für Interessierte, die im Rahmen des 5-StandorteProgramms ebenfalls ein Projekt beantragen möchten?
Rainer Goepfert: „Auf jeden Fall sollten Antragsteller frühzeitig im Kontakt mit der WFG das Vorhaben prüfen.
Wir haben im Rahmen des 5-StandorteProgramms die Erfahrung gemacht, dass für die Antragstellung ein langer Atem gebraucht wird und auch viele personelle Ressourcen in die Projektentwicklung investiert werden müssen. Auch sind die Entscheidungskriterien und -wege für uns nicht immer transparent gewesen. Vor diesem Hintergrund empfehlen wir einen intensiven und direkten Austausch auch mit den Fachressorts der Ministerien, die an der Entscheidung über die Anträge beteiligt sind. Die Bearbeitung der Qualifizierungsbedarfe unseres Antrages konnte dadurch deutlich fokussierter und inhaltlich gut abgestimmt erfolgen."


 

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